Meldungen

Hintergrund: Gesundheitskioske als neuer Ansatz für wohnortnahe Versorgung

Der Gesundheitskiosk richtet sich an die Menschen vor Ort. Im ländlichen Raum bedeutet vor Ort sein auch zu erleben, dass Angebote der medizinischen Versorgung spärlich werden können. Auch in größeren Städten kann man vor Ort sehen, dass in sozial benachteiligten Stadtteilen immer weniger Einrichtungen für die primäre Gesundheitsversorgung präsent sind. „In den strukturschwachen städtischen und ländlichen Gebieten sinken damit auch die Lebens- und Gesundheitschancen“, so Uwe Borchers, Geschäftsführer des Zentrums für Innovation in der Gesundheitswirtschaft Ostwestfalen-Lippe (ZIG OWL). Er sieht Handlungsbedarf auch für die Städte und Gemeinden: „Gerade in strukturschwachen Gebieten, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, finden wir immer weniger Arztpraxen, Apotheken oder andere medizinische Einrichtungen. Gerade hier dünnt das Gesundheitsangebot im direkten lokalen Umfeld der Menschen immer weiter aus. Das hat unmittelbaren Einfluss auf die Möglichkeiten, individuelle Gesundheitskompetenz zu erlangen oder Chancen zur Prävention und Krankheitsvermeidung zu nutzen. Der Gesundheitskiosk ist ein innovativer Ansatz und kann die bestehende Versorgung sinnvoll ergänzen oder sogar entlasten.“

Zahlreiche aktuelle Studien zeigen, dass auch in Deutschland trotz eines im internationalen Vergleich guten Medizinsystems zunehmend mehr Menschen in strukturschwachen Gebieten mit einem erschwerten Zugang zu medizinischer Versorgung leben. Die Expertinnen und Experten der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ der letzten Bundesregierung hatten die Bedeutung der gesundheitsbezogenen Infrastruktur als Standortfaktor für Kommunen und für die Lebensqualität der Menschen vor Ort ausdrücklich betont und mehr Anstrengungen für die Erhaltung wohnortnah erreichbarer Angebote der Daseinsvorsorge gefordert. Dem „Disparitätsbericht Ungleiches Deutschland“ der Friedrich Ebert Stiftung folgend leben rund 13,6 Millionen Menschen in benachteiligten Gebieten mit schwierigem Zugang zu medizinischer Beratung. Und mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland verfügt nur über geringe Gesundheitskompetenz, wie die Studien des Bielefelder Zentrums für Gesundheitskompetenzforschung zeigen: Bei steigender Fülle an Information tun sich offensichtlich immer mehr Menschen schwer damit, qualitätsgesicherte Gesundheitsinformation zu finden und sich für die eigene Prävention aktiv anzueignen.

Der Gesundheitskiosk als neuer Ansatz zur Stärkung der wohnortnahen Versorgung

Im Gesundheitskiosk gibt es jetzt neue Möglichkeiten, die individuelle Gesundheitskompetenz zu stärken und konkrete Angebote zur Prävention zu vermitteln. Es geht um niedrigschwellige Angebote für wohnortnahe Information, aber auch um persönliche Beratung bei Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit. Die Entlastung von Praxen spielt ebenso eine Rolle wie die Hoffnung, langfristig auch Kosten im Gesundheitssystem zu reduzieren. Wie kann das gehen?

In Hamburg wird das Konzept des Gesundheitskiosks seit fünf Jahren erfolgreich umgesetzt. Das Modell wurde von der OptiMedis AG mit Partnern entwickelt und gilt bundesweit als Prototyp der Gesundheitskioske. Patientinnen und Patienten in den beiden sozial schwachen Stadtteilen Billstedt und Horn können in mehr als sechs Sprachen beraten werden, das Fachpersonal leitet zu mehr Eigenverantwortung an oder informiert über Hilfsangebote im Stadtteil. Schon im ersten Jahr wurden mehr als 3.000 Beratungen durchgeführt – eine Zahl, die sich aufgrund des erleichterten Zugangs zur ambulanten Versorgung bis heute kontinuierlich erhöht hat. So ist in Billstedt und Horn die Zahl der durch eine effektive ambulante Versorgung vermeidbaren Krankenhausfälle im Vergleich zu anderen Hamburger Stadtteilen um fast 19 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig ist die Anzahl der Arztbesuche in Billstedt und Horn im Vergleich zu anderen Stadtteilen Hamburgs um durchschnittlich 1,9 Besuche je versicherter Person gestiegen. Auf diesen Trend hatten die Initiatoren gesetzt und konnten die erfolgreiche Entwicklung auch in einem umfangreichen Projekt des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses dokumentieren. Dessen positive Evaluation hatte zur Folge, dass der G-BA im Februar 2022 das Modell für eine integrierte gesundheitliche Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen empfahl.

Gesundheitskiosk auf dem Land? Zwei Kioske sind in OWL bereits gestartet.  

Das Hamburger Modell „Gesundheitskiosk“ unterstreicht mit eindrucksvollen Ergebnissen den hohen Nutzen für die Menschen vor Ort. Das Modell ist aber nicht ohne weiteres auf andere Regionen übertragbar. Keine Region ist wie die andere, und für eine ländliche Region wie Ostwestfalen-Lippe zeigen sich ganz andere Strukturmerkmale gegenüber einer Großstadt wie Hamburg. „Darum ging es uns von Anfang an darum, eine Lösung für die besonderen Gegebenheiten in unserer ländlich geprägten Region zu entwickeln und die Schwerpunkte mit Blick auf die Bedarfe der Menschen auf dem Land zu setzen“, erläutert Uwe Borchers. Zwei Gesundheitskioske auf dem Land sind inzwischen auf den Weg gebracht worden. „Glücklicherweise konnten wir an sehr gute Netzwerkstrukturen in unserer Region anknüpfen“, so Borchers mit Blick auf den erfolgreichen Start der Gesundheitskioske in Hörstmar und Loxten.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass das neue Modell bei den Bürgerinnen und Bürgern in OWL gut ankommt. Im Lemgoer Ortsteil Hörstmar besteht der Gesundheitskiosk seit über einem Jahr. Zwei Pflegekräfte sind stundenweise vor Ort für die Menschen aus Hörstmar und Umgebung da. Sie informieren und beraten zu ganz unterschiedlichen Fragen rund um die Gesundheit. Anja Rethmeier-Hanke vom Klinikum Lippe blickt auf die ersten Monate zurück: „Mittlerweile haben wir jeden Tag ein halbes Dutzend Kontakte und Anfragen von Einwohnern aus Hörstmar, aber auch aus Lemgo und Umgebung. Unser Kiosk hat an Sichtbarkeit gewonnen.“ Und sie betont die Bedeutung der Vernetzung vor Ort: „Je mehr Kooperationspartner wir ins Boot holen, umso mehr und vor allem bessere Angebote können wir entwickeln und umsetzen.“ Diese Einschätzung teilt Michaela Wierzbinski, die im Juni den Gesundheitskiosk im Versmolder Ortsteil Loxten eröffnet hat: “So wie die Kolleginnen in Hörstmar wollen wir mit unseren Angeboten die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung stärken und dazu beitragen, dass die Menschen Themen wie Prävention und Vorsorge ernst nehmen.“ Und sie ergänzt: „Ein Gesundheitskiosk finanziert sich nicht von selbst. Wir haben Partner, die unsere Arbeit fördern und mit ihrem Know-how unterstützen. Vor allem aber teilen sie die Begeisterung für diese Idee.“

Kein Kiosk ist wie der andere, lokale Bedarfe sind entscheidend.

Spezifisches Fachwissen, gutes Networking und umfassende Aufklärungsarbeit sind beim Aufbau der Gesundheitskioske nötig. Trotz anfänglicher Hürden oder hohem Aufwand bei der Organisation entsprechender Projekte scheint die Idee Raum zu greifen, nicht nur in Hamburg und OWL. Inzwischen gibt es vergleichbare Initiativen zum Bespiel in Köln, Essen oder Aachen. So wurde auch in Essen das Hamburger Modell für den Stadtteil Altenessen übertragen. Auch hier steht das Beratungsangebot allen Menschen offen, egal ob es sich um allgemein hilfsbedürftige Personen oder chronisch erkrankte Menschen oder Familien mit komplexem Hilfebedarf handelt. Die Leistungen umfassen Angebote zu Familiengesundheit, Prävention, psychosoziale Beratung oder Informationen für Senioreninnen und Senioren zur Pflege und Selbständigkeit im Alter. Der Gesundheitskiosk in Altenessen wird von medizinisch ausgebildetem Fachpersonal geführt und wird von der Gesundheit für Essen gGmbH betrieben, zu deren Mitgesellschafter unter anderem das Ärztenetz Essen Nord-West zählt.

Nutzen für die Primärversorgung: Gesundheitskiosk als lokale Anlaufstelle

Die Vorteile liegen auf der Hand. Gesundheitskioske können nicht nur die individuelle Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger fördern, sondern darüber hinaus die medizinische Nahversorgung sichern, niederschwelligen Zugang zu Gesundheitsleistungen bieten, die Prävention und Gesundheitsförderung stärken sowie das Gesundheitssystem entlasten, sowohl durch Reduktion der Kosten als auch durch eine komplementäre Unterstützung der Kliniken und Ärzte. Anja Rethmeier-Hanke bilanziert das Engagement des Klinikums Lippe beim Aufbau des Gesundheitskiosk in Hörstmar positiv und sieht weitere Vorteile: „Bisher wurden die Wettbewerbsvorteile, die mit dem Betrieb von Gesundheitskiosken verbunden sind, noch nicht richtig ernst genommen. Das wird sich in den kommenden Monaten stark verändern, und die Krankenhäuser sollten die Gestaltungsmöglichkeiten stärker nutzen und den Anspruch an integrierte Versorgung nicht aufgeben.“ Auch Uwe Borchers sieht den Nutzen der Gesundheitskioske als einen ergänzenden Beitrag für bessere Standortqualität im Wettbewerb der Regionen: „Uns ist wichtig, dass die regionalen Gesundheitsakteure den Gesundheitskiosk als Chance für eine besser verzahnte Versorgung wahrnehmen. Von der niedrigschwelligen Anlaufstelle profitieren ja nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch die professionellen Partner im lokalen Netzwerk. Und das zahlt letztlich ein auf höhere Lebensqualität und eine Stärkung der Region.“

Politik sieht Gesundheitskioske als zukunftsweisendes Modell

Die neue Bundesregierung hat diese Potentiale wohl auch erkannt und will niedrigschwellige Beratungsangebote errichten und innovative Versorgungsformen stärken – der Gesundheitskiosk wird im Koalitionsvertrag explizit genannt. Inzwischen sollen Gesundheitskioske bundesweit etabliert werden, um die ambulante Versorgung zu verbessern. In der Gesundheitsregion OWL setzt man darauf, das Modell Gesundheitskiosk schon mal in Eigeninitiative zu erproben. Dabei zeigt sich, dass die Einrichtung von Gesundheitskiosken dabei helfen kann, dass Medizin, Pflege und weitere Gesundheitsdienstleistungen auch in Zukunft im ländlichen Raum gut erreichbar sind.

Mehr Information:
Gesundheit für Billstedt und Horn
Gesundheitskiosk Hörstmar
Gesundheitskiosk Loxten
Gesundheitskiosk Altenessen