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Hilfe für pflegende Angehörige

80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause von Verwandten betreut, viele sind aber noch berufstätig. Um sie zu entlasten, sehen Experten in OWL neben der Politik auch Arbeitgeber in der Pflicht.

Mit der Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf werben immer mehr Unternehmen um Fachkräfte. Von flexiblen Arbeitszeitmodellen über finanzielle Zuschüsse bis hin zur Kinderbetreuung reichen die Angebote von Betrieben, die die Bedeutung des Themas erkannt haben. Was für Arbeitnehmer mit Kindern immer selbstverständlicher wird, ist für Arbeitnehmer mit pflegebedürftigen Angehörigen die Ausnahme. Auch in der politischen Diskussion spielen pflegende Angehörige nur eine untergeordnete Rolle, obwohl sie die Hauptlast der Pflege schultern. Das Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft (ZIG) OWL will diesen Missstand beheben und wird dabei von der Krankenkasse DAK unterstützt.

Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, wie viele Familien in Deutschland von Pflege betroffen sind: Fünf Millionen Menschen sind pflegebedürftig, und 80 Prozent werden zu Hause von Angehörigen versorgt. Sichtbar sind sie vielerorts trotzdem nicht, weil in der Öffentlichkeit vor allem über die Probleme in der professionellen Pflege gesprochen wird. So bleiben die Nöte pflegender Angehöriger oft ungehört. „Viele sind berufstätig und werden mit dieser Doppelbelastung alleine gelassen“, moniert Uwe Borchers, Geschäftsführer des ZIG OWL.

Zwar stehen für Menschen, die zu Hause pflegen und gepflegt werden, verschiedene Hilfsangebote zur Verfügung, wie zum Beispiel Tagespflege oder Rehabilitation. „Doch diese Angebote kommen bei den meisten Familien nicht an“, weiß Borchers. „Das liegt daran, dass viele nicht wissen, dass sie Ansprüche haben, oder, wie sie an die Hilfe gelangen können. Aber auch, dass Angebote nicht zur Familiensituation passen.“ Das Problem ziehe sich durch das gesamte Versorgungsnetz. „Es ist an vielen Stellen zu kompliziert und unflexibel.“

Weitere Gründe sieht die DAK im geringen Stellenwert des Themas Pflege. „Pflege ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, wird aber nicht als solches in der breiten Öffentlichkeit diskutiert“, kritisiert Klaus Overdiek, Leiter der DAK-Landesvertretung NRW. Nötig sei mit Blick auf die sprunghaft steigende Zahl an Pflegebedürftigen deshalb ein anderes Zusammenspiel aller Akteure, um die Menschen, die zu Hause pflegen und gepflegt werden, besser zu unterstützen. „Angehörige bilden das Fundament der Pflege. Ohne sie ist die Versorgung nicht zu schaffen.“ Zudem müsse sich jeder klarmachen, dass er sich früher oder später mit dem Thema auseinandersetzen muss. „Es wird jeden von uns in irgendeiner Form betreffen.“

Neben Verbesserungen, für die die Politik sorgen kann, sehen DAK und ZIG OWL aber auch Region und Unternehmen in der Pflicht. „OWL darf als Region nicht auf die Politik warten, sondern muss jetzt die Situation pflegender Angehöriger verbessern. Das ist wichtig für Familien, aber auch für die Region, weil die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ein Standortfaktor ist“, sagt Borchers. Das gelte auch für Betriebe, die mit der Förderung nicht nur ihren Mitarbeitern helfen, sondern auch die eigene Zukunft sichern. „Pflege ist eine gewaltige Herausforderung, für die Angehörige nicht selten in Teilzeit wechseln oder gar ihre Berufstätigkeit aufgeben müssen, wenn der Arbeitgeber nicht unterstützt“, weiß Overdiek.

Eine Entwicklung, die sich ein Land mit einem nie da gewesenen Arbeitskräftemangel eigentlich nicht leisten kann. „Doch Unternehmen können verhindern, dass Arbeitskräfte und damit Wissen und Geld verloren gehen“, sagt Jan Schnecke, Leiter des Projekts „Work and Care“, das neue Unterstützungsformen für Unternehmen und pflegende Erwerbstätige in OWL entwickelt. „Noch nutzen Betriebe dieses Potenzial jedoch nicht aus.“

Diese Erfahrung macht auch Eva Leschinski als Leiterin des Kompetenzzentrums Frau und Beruf OWL, das zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und der beruflichen Chancen von Frauen in OWL gegründet wurde. „Es fehlt an einer Vertrauensbasis. Über Kinder, die versorgt werden müssen, spricht jeder, doch nicht über pflegende Angehörige. Das kann ein Unternehmen ändern, indem es das Thema Pflege enttabuisiert“, erklärt Leschinski. Mit Veranstaltungen und Material zum Informieren könne bereits viel erreicht werden. „Orientierung und Beistand leisten darüber hinaus betriebliche Pflegelotsen.“ Wichtig sei zudem ein Überblick, um zu erfahren, wie viele Mitarbeiter bereits von Pflege betroffen sind oder bald betroffen sein könnten. „Denn die Unterstützung von Eltern beginnt nicht erst, wenn ihnen ein Pflegegrad bescheinigt wird, sondern schon weit davor.“

Nach Angaben der DAK sind 75 Prozent der pflegenden Angehörigen Frauen. „Was ihnen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hilft, hilft auch bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“, sagt Leschinski. „Dazu zählen flexible Arbeitszeiten, Pausen und Zeitkonten und die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten.“ Nötig sind nach Angaben Borchers aber auch neue Wege. „Patentrezepte gibt es nicht. Nur durch Experimente können wir Erfahrungen sammeln. Warum nicht in einem Industriegebiet neben einer Betriebskita auch eine Tagespflege eröffnen?“ Auch hier kann laut Overdiek der Staat besser unterstützen. „Ein Pflegegeld, ähnlich wie das Elterngeld für frisch gebackene Mütter und Väter, könnte vielen Familien helfen.“

Quelle: Neue Westfälische (20.03.2023, Carolin Nieder-Entgelmeier)