Ob die Stadt Harsewinkel im Kreis Gütersloh in näherer Zukunft medizinisch unterversorgt ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Politiker wollen das Thema auf die Agenda setzen. Die Politik müsse frühzeitig an Lösungen arbeiten, sagt Juan Carlos Palmier, Ratsmitglied der GRÜNEN, bei der Bürgerversammlung inklusive Diskussion am vergangenen Donnerstagabend im Heimathaus Harsewinkel. In seiner Funktion als Vorsitzender setzt er das Thema auf die Tagesordnung des nächsten Sozial- und Gesundheitsausschusses Ende August.
Droht eine allgemeine Unterversorgung?
Auch der Referent des Abends Uwe Borchers vom Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft Ostwestfalen-Lippe (ZIG) äußerte sich zu der ärztlichen Versorgungslage. Man diskutiere das Thema auf hohem Niveau, sagte dieser, als er die Zahlen verschiedener Studien zitierte. Gleichwohl befinde man sich allgemein gesehen im Krisenmodus: Im Jahr 2035 fehlten nach einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung demnach bundesweit 11.000 Hausärzt:innen. 19 Prozent der Kreise seien dann unterversorgt – laut Definition der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), die für die Ärzteversorgung vor Ort zuständig ist. Mit „Unterversorgt“ bezeichnet die KV Kreise, die lediglich 75 Prozent des erforderlichen Kontingents an Hausärzt:innen stellen kann. Momentan hat die KV die Stadt Harsewinkel aber nicht auf dem Radar. Borchers sagte jedenfalls, Harsewinkel sei eine der wenigen Kommunen, die nicht als derart bedürftig farbig markiert sei, aber diese Landkarte werde monatlich aktualisiert und schwanke in der Darstellung.
Gründung von Ärztezentren begrenzt Verwaltungsaufwand
Nach der umfassenden Bestandsaufnahme, die auch den angrenzenden Bereich der (Alten-)Pflege mit dem bekannten Personalmangel abdeckte, skizzierte Uwe Borchers einige Lösungsansätze. Die Vereinfachung in der Dokumentation stehe ganz oben. Paderborner Ärzt:innen und Krankenhäuser testeten gerade eine Plattform zum Austausch von Patientendaten.Also eine vorweg genommene elektronische Patientenakte, die politisch bekanntlich derzeit noch in der Gesetzgebungsphase steckt und nicht richtig vorankommt. Borchers lobte am Paderborner Modell die Datensicherheit, den unkomplizierten Datenaustausch ohne teure Schnittstellen und die guten Rückmeldungen der Ärzt:innen zu der Plattform. Ob das eine Lösung für alle ist, vorbei an der elektronischen Patientenakte, blieb offen. Ein weiteres Beispiel, Verwaltungsaufwand zu begrenzen, sei die Gründung von Ärztezentren, in denen die betriebswirtschaftliche Führung an Kaufleute übertragen wird. Borchers nannte ein erfolgreiches Ärztezentrum in Plettenberg.
Günstige Grundstücke und Immobilien anbieten
Was die Kommune tun kann? Günstige Grundstücke oder Immobilien anbieten, oder bei der Praxisausstattung finanziell helfen, skizzierte Borchers die begrenzten Möglichkeiten. In Harsewinkel ist das Gesundheitszentrum Ostmünsterland-Ravensberg (früher Gesundheitszentrum Greffen) mit 18 Ärztinnen und Ärzten an fünf Standorten (Harsewinkel, Marienfeld, Greffen, Versmold und Sassenberg) quasi ein Vorreiter. Zwar sucht auch das Gesundheitszentrum aktuell junge Ärzt:innen, findet sie aber auch, wie zu sehen ist; und auch die nächste Generation der beiden Chefs studiert bereits Medizin. Gründer Heinz-Josef Sökeland, CDU-Politiker im Kreistag, fehlte am Donnerstag zwar in der Runde. Die Schwerpunktpraxis für Diabetologie des Gesundheitszentrums war aber durch den zweiten Chef Thomas Waltermann vertreten. Waltermann bezweifelte die von Palmier genannte Zahl, wonach 65 Prozent der Hausärzte in Harsewinkel über 60 Jahre alt seien und demnächst in den Ruhestand gingen. Womöglich sei damit die Zahl der selbstständigen Hausärzte gemeint, kommentierte der Harsewinkeler Allgemeinmediziner Martin Hartmann. Der selbstständige Hausarzt („Ich liege vom Alter her dazwischen“) nannte sich selbst offen für Kooperationen, sollten sich diese einmal anbieten.
Die ''lebenswerte Stadt“ sollte sich besser positionieren
Generell stellten die Hausärzt:innen und auch der ebenfalls anwesende Harsewinkeler Zahnarzt Daniel Loermann fest, dass junge Ärztinnen und Ärzte häufig das Unternehmerrisiko scheuten, geregelte Arbeitszeiten und geregelte Wochenenddienste schätzten und auch die Möglichkeit zu Teilzeitarbeit, was Referent Borchers bestätigte. „Weniger Verwaltungsaufgaben“, wünschte sich Daniel Loermann, der vor wenigen Jahren über ein Engagement in die Arztpraxis Pumpe-Kuspiel gekommen ist. Er arbeite lieber in Harsewinkel als in Dortmund, lobte Loermann die Mähdrescherstadt; man müsse diese lebenswerte Stadt besser positionieren. Kritik übte Loermann an der Politik. Es werde jungen Ärztinnen und Ärzten nahezu unmöglich gemacht, sich selbstständig zu machen. Seit 1990 seien Medizin-Studienplätze abgebaut worden. Außerdem kritisierte er das schwierige Prozedere mit Behörden, wolle man als Praxis eine Ärztin oder einen Arzt aus dem Ausland anstellen.
Quelle: Neue Westfälische – Droht in dieser Stadt im Kreis Gütersloh bald ein Ärztemangel? (19.06.2023)