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Digitale Medizin: Mit digitalen Lösungen medizinisches Wissen nutzbar machen

Fast 400.000 klinische Studien wurden seit der Jahrtausendwende bis heute weltweit registriert. Ein enormer Wissensfundus, der täglich um rund 80 neue Studien wächst, in Ermangelung von digitalen Lösungen aber bislang nur in Teilen und wenig effizient ausgeschöpft wird. Um die Verfügbarkeit, Selektierung und Weiterverarbeitung der Informationen zu optimieren, hat eine an der Technischen Fakultät der Universität Bielefeld angesiedelte Arbeitsgruppe eine wegweisende semantische Technologie zur Unterstützung der medizinischen Forschung entwickelt. Vor wenigen Wochen wurde nun der erste Prototyp der digitalen Lösung vorgestellt.

Klinische Studien sind die Basis der medizinischen Forschung und spielen bei der Erstellung von Guidelines, bei der Beurteilung und Bewertung von Therapieanwendungen oder auch die Entwicklung von Behandlungskonzepten eine wichtige Rolle. Angesichts der enormen Datenmengen, die mittlerweile zur Verfügung stehen, fällt es jedoch immer schwerer, noch den Überblick zu behalten und die Informationen in ihrer Komplexität zu erfassen. Welche Angaben sind für die jeweilige Zielsetzung relevant, wo sind sie zu finden und wie können sie in Bezug zueinander gesetzt werden? Fragen, bei denen es nicht nur um quantitative Aspekte geht, sondern auch und vor allem um das Thema Datenaufbereitung und die damit verbundenen Möglichkeiten der Weiterverarbeitung, weiß Prof. Dr. Philipp Cimiano, Leiter der AG Semantische Datenbanken der Universität Bielefeld. „Die meisten klinischen Studien liegen nur in Papierform oder als geschlossenes Dateiformat vor. Damit ist die Nachnutzung dieser Ergebnisse sehr eingeschränkt und der manuelle Aufwand bei der Sekundärnutzung sehr hoch. Insbesondere entsteht bei der Zusammenfassung und Aggregation von Daten wie sie bei der Erstellung von systematischen Reviews und medizinischen Leitlinien notwendig ist ein hoher Aufwand. Ziel muss es sein, diese Daten maschinenlesbar zu machen, um die Ergebnisse der Studien in ihrer ganzen Aussagekraft für die Medizin nutzbar zu machen.“

Bahnbrechende Innovation aus Ostwestfalen-Lippe

Eine Erkenntnis, die den heute 44jährigen Informatiker 2014 dazu bewog, sich intensiver mit dieser Problematik auseinanderzusetzen. Im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte, die unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurden, entwickelte er mit einem halben Dutzend Mitarbeiter über einen Zeitraum von acht Jahren einen semantischen Technologieansatz, der die bedarfsgerechte Aggregation klinischer Evidenz in Form von klinischen Studien unterstützt und es möglich macht, in nur wenigen Stunden semantische Veröffentlichungen von klinischen Studien zu erstellen. Eine bahnbrechende Neuerung, die es in dieser Form bislang noch nicht gibt, sagt Philipp Cimiano: „Mit unserem Ansatz optimieren wir die Synthese der klinischen Evidenz. Wir sparen aber nicht nur viel Zeit und Geld, sondern schaffen erstmals die Möglichkeit, das enorme Reservoir an Wissen, das in klinischen Studien verborgen ist, in seiner ganzen Komplexität zu nutzen.“

Dynamisches Tool bietet viele Vorteile für den Anwender

Im Mittelpunkt der Anwendung „Dynamic Interactive Argument Trees“ (DIAeT) steht eine Datenbank, in der die Resultate der bisher registrierten, aber auch von zukünftigen klinischen Studien maschinenlesbar aufbereitet und hinterlegt werden. Dank der neu entwickelten, semantischen Technologie können die erfassten Daten dann analysiert, selektiert und als Zusammenfassung aufbereitet werden. Um diesen Prozess möglichst zielgerichtet und effizient zu gestalten, legte das Team bei der Entwicklung großen Wert auf den praktischen Nutzen und die System-Gebrauchstauglichkeit. Philipp Cimiano: „Wir wollen, dass Anwender mit dem System arbeiten und es nach ihren Prämissen gestalten können. Daher haben wir das Tool dynamisch und nicht statisch konzipiert. Nutzer haben die Möglichkeit, Abfragekriterien zu verändern, Filter einzusetzen oder auch Daten und Ergebnisse zu hinterfragen und zu diskutieren. So kommen sie deutlichschneller und effizienter an ihr Ziel.“
Ein Konzept, das offenbar auch den Ansprüchen der Adressaten entgegenkommt. Darauf deuten zumindest die Ergebnisse einer Online-Umfrage zur Evaluation des Tools hin, die Anfang 2021 unter Mitarbeitern aus verschiedenen Gesundheitsbereichen durchgeführt wurde (Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Anästhesie, Pädiatrie, Notfallmedizin etc.). Die Ergebnisse stimmen Philipp Cimiano optimistisch: „In der Umfrage wurde nicht nur der Wert und die Nützlichkeit von DIAeT für die Erkundung von klinischer Evidenz bestätigt, beispielsweise beim Vergleich von Arzneimittelbehandlungen oder als Entscheidungshilfe in unklaren Diagnosefällen. Die Teilnehmer lobten auch die Nutzbarkeit und das einfache Handling des Tools. Gerade dieser Aspekt war uns besonders wichtig.“

Aus der Forschung in die Anwendung

Nach der Fertigstellung des Prototyps geht es nun darum, das neue Tool auch in die praktische Anwendung zu bringen. Dabei steht laut Philipp Cimiano aktuell die Frage im Zentrum, wie es gelingen kann, bei den bereits durchgeführten bzw. auch zukünftigen Studien die Beschreibung der zentralen Studienergebnisse mit dem DIAeT-Ansatz zu erfassen „Basis unserer Datenbank sollen letztlich die Ergebnisse der klinischen Studien sein, die in den letzten 20 Jahren veröffentlicht wurden. Die Transformation dieser Resultate in unser Format ist aber ein enormer Aufwand, den ein Akteur alleine nicht leisten kann. Darum wollen wir uns mit allen Beteiligten an einen Tisch setzen und klären, wie dieser Prozess arbeitsteilig optimal organisiert werden kann. Erste Gespräche hierzu laufen auch schon bereits.“
Die Arbeiten an der neuen Technologie gehen währenddessen weiter, auch mit Blick auf weitere zukünftige Einsatzbereiche. So bewirbt sich das Team derzeit im Rahmen von Ausschreibungen des BMBF und von der VW-Stiftung um weitere finanzielle Mittel. „Angesichts der Qualität der Lösung und den daraus erwachsenden Perspektiven für die Gesundheitswirtschaft haben wir wirklich gute Chancen, eine Folgefinanzierung zu erhalten. Dies wäre natürlich für unsere Arbeit, aber auch für die medizinische Fakultät in Bielefeld und den Standort Ostwestfalen-Lippe eine tolle Sache“, blickt Phillip Cimiano zuversichtlich in die Zukunft.

Link: CITEC, Universität Bielefeld
Text: Christian Horn

 

Digitale Medizin in Westfalen

Mitte März hatte das ZIG OWL mit dem Westfalen e.V. zur Online-Veranstaltung „Digitale Medizin in Westfalen“ eingeladen. Die erfolgreiche Veranstaltung hat gezeigt, in welchen Bereichen digitale Medizin an Bedeutung gewinnt. Innovative Ansätze wie die Digitalisierung klinischer Studien, die digital unterstützte Versorgung von Demenzpatienten, telemedizinische Anwendungen im ländlichen Raum, das virtuelle Krankenhaus NRW oder die digitale Betreuung herzkranker Menschen werden nach und nach Teil der medizinischen Regelversorgung, auch wenn manche Entwicklung noch in den Anfängen steckt.

Wir dokumentieren in unserer kleinen Serie „Digitale Medizin“ die spannenden Vorträge mit ihren innovativen Inhalten. Jenseits der Fachinformation zeigen die Beiträge der Veranstaltung, wie gut die Region schon heute bei diesem Zukunftsthema aufgestellt ist und mit wie viel Engagement die beteiligten Einrichtungen und Akteure die Entwicklung der digitalen Medizin nach vorne treiben, geleitet von dem Ziel, den größtmöglichen Nutzen für Patientinnen und Patienten oder Betroffene herzustellen.

Wir stehen gern für Ihre Fragen und Hinweise zu Verfügung. info(at)zig-owl.de