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Digitale Medizin: Optimierte Gesundheitsversorgung bei Demenzerkrankung

Die Versorgung der Menschen im ländlichen Raum gehört zu einer der größten Herausforderungen der Gesundheitswirtschaft. Gerade in diesem Bereich kann digitale Medizin wertvolle Hilfestellungen leisten. Beispielhaft dafür steht die Diagnostik und Versorgung von demenzkranken Menschen. Ein Pilotprojekt, das derzeit in der Region Siegen-Wittgenstein durchgeführt wird, dokumentiert eindrücklich, wie groß der Nutzen der Digitalisierung in diesem Anwendungsgebiet ist.

Schon heute sind rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschland von einer Demenzerkrankung betroffen, davon allein in Nordrhein-Westfalen ca. 360.000 Menschen. Zahlen, die aber nur die Spitze des Eisbergs darstellen angesichts einer hohen Dunkelziffer. So haben nur 40 Prozent der auf Demenz positiv gescreenten Personen auch die formale Diagnose Demenz und damit einen verbesserten Versorgungsanspruch. Eine besorgniserregende Situation, die sich in naher Zukunft weiter zu verschärfen droht. So rechnen Experten bis zum Jahr 2030 mit einer Zunahme von Demenzerkrankungen von fast 30 Prozent. Schon heute bestehende regionale Unterschiede in den Versorgungsmöglichkeiten dürften sich dann weiter manifestieren bzw. verschärfen. Für Dr. René Thyrian vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen höchste Zeit, dieses wichtige Thema in Angriff zu nehmen. „Schließlich geht es hier nicht nur um die Betroffenen selbst, sondern auch um Angehörige und die zugehörigen sozialen Netzwerke. Daher muss sowohl die Diagnostik als auch Versorgung der Betroffenen und auch der pflegenden Angehörigen individuell bzw. regional geplant und umgesetzt werden.“

Projektverlauf übertrifft die Erwartungen

Wie diese Herausforderung zufriedenstellend für alle Beteiligten gelöst werden kann, zeigt das Anfang 2021 ins Leben gerufen Pilotprojekt in der Region Siegen-Wittgenstein, wo rund ca. 5.700 an Demenz erkrankte Menschen leben. Nachdem in der Phase der Interventionsentwicklung über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr alle vorbereitenden Maßnahmen und Schritte umgesetzt wurden, ist das Projekt „DelpHi-SW“ nun in die zweite Phase eingetreten, die Pilotierung. Seit Februar 2022 kümmern sich speziell qualifizierte Pflegefachpersonen, die so genannte Dementia Care Manager, in einem mehrschrittigen Verfahren um die Belange der Patienten. Sie absolvieren Hausbesuche, identifizieren Versorgungslücken auf ärztlicher, pflegerischer, medikamentöser, psycho-sozialer und sozialrechtlicher Ebene und erstellen einen individualisierten Behandlungs- und Versorgungsplan, der dann in Zusammenarbeit mit Hausärzten umgesetzt, monitort und kontrolliert wird. Der Großteil dieser Schritte wird durch digitale Anwendungen unterstützt, die einen durchgängigen und transparenten Informationsfluss gewährleisten.
Angesichts des erkennbar hohen Nutzens für alle Projektbeteiligten zieht Prof. Dr. Julia Haberstroh, Inhaberin des Lehrstuhls für Psychologische Alternsforschung, Department Psychologie, Lebenswissenschaftliche Fakultät an der Universität Siegen, nur wenigen Wochen nach dem Start der Pilotierung eine positive Zwischenbilanz: „Bislang hat der Projektverlauf unsere Erwartungen wirklich übertroffen. Auch wenn wir am Anfang das ein oder andere technische Problem hatten, läuft das Projekt ausgesprochen gut. Patienten und Angehörige, aber auch die Kooperations- und Sozialpartner sind sehr aktiv und unterstützen uns, wo es geht. Daher liegen wir auch immer noch voll im Zeitplan.“ Insbesondere das partizipative Netzwerk, über das die Experten aus den beteiligten Forschungseinrichtungen, Mitarbeiter der Sozialpartner sowie der aus Betroffenen und Angehörige bestehende Beirat eng miteinander vernetzt sind, funktioniert einwandfrei. „Dieses Netzwerk von hochengagierten Menschen ist die Basis, auf dem unser regional verfügbares Gesundheitssystem fußt, das die Lebensqualität der Patienten verbessert und gleichzeitig ihre Angehörigen entlastet“, berichtet Julia Haberstroh begeistert von der täglichen Arbeit. Sorgen machen ihr allerdings die Lockerungen der Corona-Maßnahmen, die natürlich auch vor ihrem Projekt nicht haltmachen. „Unsere Patienten sind aufgrund von Alter und Gesundheitszustand besonders gefährdet. Damit kommen auf sie, aber auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter natürlich wieder ganz neue Herausforderungen zu.“

Nachhaltige Versorgung muss das Ziel sein

Das Pilotprojekt in Siegen ist eingebettet in das regionale Modellkonzept „Medizin neu denken“, ein vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW) gefördertes Vorhaben, in dessen Mittelpunkt die Zukunft der medizinischen Versorgung ländlicher Räume unter den Vorzeichen von Demografie und Digitalisierung steht. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie die gesundheitliche Versorgung in der Fläche auch in Zukunft evidenzbasiert gestaltet und sichergestellt werden kann. Das Konzept fußt auf den drei strategische Säulen Translation, Vernetzung und Partizipation, wichtige Themenbereiche, die auch in Siegen über den gesamten Projektverlauf hinweg monitort werden. Julia Haberstroh: „Letztendlich geht es uns darum, einen nachhaltige Versorgungsansatz für den ländlichen Raum zu entwickeln und zu verfeinern, verbunden mit dem Ziel, den zugehörigen Implementierungsprozess replizierbar zu machen.“ Dass das Konzept unabhängig davon bei jeder Anwendung neu angepasst und verändert werden muss, ist ihr völlig klar: „Die Unterschiede von Region zu Region sind einfach zu groß. Da kann man nicht mit einem Modell von der Stange arbeiten.“ Dennoch blickt sie, ebenso wie ihr Kollege Rene Thyrian, optimistisch auf die weitere Entwicklung, wohl wissend, dass das hohe Engagement der Beteiligten, das auch in Siegen wichtiger Treiber für den bisher positiven Verlauf ist, langfristig nicht ausreichen wird. „Das Engagement der beteiligten Akteure ist großartig, aber wir brauchen darüber hinaus natürlich auch die Unterstützung von den relevanten politischen Akteuren. Aber ich denke, da haben wir vor allem dank der bisher ausgezeichneten Projektergebnisse gute Argumente“, ist René Thyrian optimistisch.

Link: Universität Siegen, Psychologische Alternsforschung
Text: Christian Horn

 

 

Digitale Medizin in Westfalen

Mitte März hatte das ZIG OWL mit dem Westfalen e.V. zur Online-Veranstaltung „Digitale Medizin in Westfalen“ eingeladen. Die erfolgreiche Veranstaltung hat gezeigt, in welchen Bereichen digitale Medizin an Bedeutung gewinnt. Innovative Ansätze wie die Digitalisierung klinischer Studien, die digital unterstützte Versorgung von Demenzpatienten, telemedizinische Anwendungen im ländlichen Raum, das virtuelle Krankenhaus NRW oder die digitale Betreuung herzkranker Menschen werden nach und nach Teil der medizinischen Regelversorgung, auch wenn manche Entwicklung noch in den Anfängen steckt.

Wir dokumentieren in unserer kleinen Serie „Digitale Medizin“ die spannenden Vorträge mit ihren innovativen Inhalten. Jenseits der Fachinformation zeigen die Beiträge der Veranstaltung, wie gut die Region schon heute bei diesem Zukunftsthema aufgestellt ist und mit wie viel Engagement die beteiligten Einrichtungen und Akteure die Entwicklung der digitalen Medizin nach vorne treiben, geleitet von dem Ziel, den größtmöglichen Nutzen für Patientinnen und Patienten oder Betroffene herzustellen.

Wir stehen gern für Ihre Fragen und Hinweise zu Verfügung. info(at)zig-owl.de