Dank digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGa's) können einige Erkrankungen heutzutage früher erkannt und diagnostiziert werden als noch vor wenigen Jahren. Wie groß der Nutzen der fortschreitenden Digitalisierung mittlerweile für Anwender sowie Patienten und Patientinnen ist, zeigt das Beispiel der Herzrhythmusstörungen. An der medizinischen Fakultät OWL an der Universität Bielefeld beschäftigt sich seit 2020 die Arbeitsgruppe Digitale Medizin von Univ.-Prof. Dr. med. Sebastian Kuhn in Zusammenarbeit mit der Kardiologischen Klinik des Universitätsklinikums OWL unter Leitung von Univ.-Prof. Dr. med. Christoph Stellbrink mit dem Thema.
Fast zwei Millionen Menschen in Deutschland leiden unter „Vorhofflimmern“, der am häufigsten vorkommenden Herzrhythmusstörung. Da die Symptome kurzfristig auftreten und mitunter nur wenige Minuten andauern (paroxysmales Vorhofflimmern), können die Episoden mittels Routinediagnostik, bestehend aus Langzeit-EKGs, häufig nicht detektiert werden. Eine adäquate therapeutische Intervention erfolgt dann häufig nicht, was zu großer Unzufriedenheit auf Seiten der Patienten und Patientinnen führt, weiß Dennis Lawin, Assistenzarzt an der Universitätsklinik für Kardiologie und internistische Intensivmedizin am Campus Klinikum Bielefeld des Universitätsklinikum OWL und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Digitale Medizin an der Medizinische Fakultät OWL an der Universität Bielefeld: „Die Aufzeichnungsdauer der routinemäßig durchgeführten Langzeit-EKGs ist häufig zu kurz, um die belastenden Episoden von Herzrasen zu dokumentieren. Durch diese diagnostische Lücke werden die Patienten und Patientinnen häufig erst sehr spät diagnostiziert und es kann nur verzögert eine adäquate therapeutische Maßnahme eingeleitet werden. “
Der „Blindflug“ ist zu Ende
Seit 2021 beschäftigt sich Dennis Lawin als Digital Clinician Scientist intensiv mit dem Thema digitale Gesundheitsanwendungen zur Detektion von Herzrhythmusstörrungen. Im Rahmen des am Universitätsklinikum OWL angesiedelten Projekts ‚REMATCH‘ betreut er eine Gruppe von 60 ambulant betreuten Personen, die seit langem unter Herzrhythmusstörrungen leiden und bereits eine zweite Katheterablation (Verödung) haben vornehmen lassen. Um regelmäßig Informationen über deren Gesundheitszustand zu erhalten und im Bedarfsfall umgehend geeignete Gegenmaßnahmen einleiten zu können, erhält Dennis Lawin über eine als Medizinprodukt zertifizierte Smartphone-App mehrfach täglich Informationen über den Herzrhythmus seiner Schützlinge. Ein innovativer Einsatz, der den bisherigen „Blindflug“ zwischen den Arztbesuchen beendet und aus Sicht von Dennis Lawin wegweisend ist für die Diagnostik und zeitnahe Behandlung von häufig sehr belastenden Herzrhythmusstörungen: „Viele digitale Gesundheitsanwendungen haben eine hohe diagnostische Treffsicherheit zur Diagnostik von Vorhofflimmern und sind bereits als Medizinprodukt zertifiziert. Dank dieser digitalen Gesundheitsanwendungen haben wir die Möglichkeit der kontinuierlichen Datenerhebung und können Probleme, die wir sonst nicht erkennen würden, dank besserer Auswertung und Diagnostik nun sichtbar machen. Das ist für uns, vor allem aber für unsere Patienten und Patientinnen, ein riesiger Fortschritt.“
Für die Analyse des Herzrhythmus sind verschiedene Anwendungstechniken etabliert, von der klassischen EKG-Anwendung über ein innovatives fototechnisches Verfahren, der so genannten Photoplethysmographie (PPG), bis hin zu sprachbasierten Anwendungen. Noch kommt zu fast 90 Prozent die EKG-Methode zum Einsatz, die vielen Betroffenen bereits aus dem Alltag vertraut ist. Aber unabhängig davon, welches Tool eingesetzt wird, ist die Qualität der Daten erstklassig, was nicht zuletzt auf die Motivation der Testpersonen zurückzuführen ist. Dennis Lawin: „Es ist toll zu sehen, wie engagiert unsere Patienten und Patientinnen, von denen viele schon über 80 Jahre alt sind, hier bei der Sache sind.“
Weitere Anwendungsgebiete
Aber nicht nur Personen mit Herzrhythmusstörungen profitieren von diesen digitalen Gesundheitsanwendungen, auch COVID-19 erkrankte Menschen profitieren von deren Einsatz. Dies hat das Projekt Covid-19@Home anschaulich gezeigt, ein weiteres Projekt der Arbeitsgruppe Digitale Medizin. Dank regelmäßigem Monitoring und der semi-kontinuierlichen Übermittlung der Übertragung der Vitalwerte und Symptome war es möglich, an COVID19-Erkrankte in der häuslichen Isolation medizinisch zu überwachen und bei Verschlechterung des Zustands beispielsweise eine Krankenhauseinweisung zu initiieren. „COVID-19 hat in der Digitalen Medizin einen enormen Schub ausgelöst. Angesichts von Isolation und Quarantäne ist der Bedarf an digitalen Gesundheitsanwendungen enorm gewachsen, eine Entwicklung, die sich zumindest in naher Zukunft weiter verschärfen dürfte“, prognostiziert Dennis Lawin. Aktuell steht der Transfer auf spezifische Patienten/Patientinnen-Populationen im Vordergrund: Erst vor wenigen Tagen eröffnete auf dem Campus Bethel eine Long-Covid-Ambulanz für Kinder und Jugendliche, die einem interdisziplinären Ansatz folgt und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Digitale Medizin viele der bereits gemachten Erfahrungen in die Arbeit einfließen lassen wird. Hierbei wird auch eine weitere Studie des telemedizinischen Monitorings initiiert als Teil des Nationalen Forschungsnetzwerk Projekts COVerChild.
Gute Perspektiven, große Herausforderungen
Die Entscheidung, den Fokus seiner Forschungsarbeit auf das Thema Digitale Medizin zu legen, hat Dennis Lawin trotz der Doppelbelastung bis heute nicht bereut. „Die eigenverantwortliche Mitarbeit der Patienten und Patientinnen in der eigenen Behandlung und der Informationsgewinn durch digitale Gesundheitsanwendungen schaffen für die Medizin völlig neue Möglichkeiten. Die Einbettung in telemedizinische Behandlungskonzepte beschleunigt nicht nur therapeutische Entscheidungen, sondern dient auch als Vehikel für eine interdisziplinäre Versorgung.“ Hervorragende Perspektiven also, an denen aber noch gearbeitet werden muss, sagt Dennis Lawin: „Die Implementierung digitaler Gesundheitsanwendungen in die Versorgungsrealität und die Verbesserung medizinischer Endpunkte ist nur unzureichend untersucht. Es fehlen schlicht die Ressourcen, die diese Forschung im klinischen Alltag ermöglichen. Hier müssen wir ansetzen, wenn wir das Thema Digitale Medizin weiter voranbringen wollen.“
Link: Klinikum Bielefeld
Text: Christian Horn