(Westfalenblatt, Halle Westf.) Allein mit Nachwuchswerbung für neue Ärzte und Pflegekräften lassen sich die Probleme laut einem Gesundheitsexperten nicht abwenden. In Halle hat er Kommunalpolitikern jetzt eine Menge Ideen präsentiert, mit denen sich durch kleinere Maßnahmen die großen Probleme für die örtliche Versorgungslage auch in Zukunft sichern lässt.
Für die künftige Patientenversorgung im Bereich Halle-Borgholzhausen könnte es zum Problem werden, dass hier heute jeder dritte Hausarzt älter als 60 Jahre ist. Der Haller Politik sind jetzt Ideen vorgestellt worden, was man vor Ort trotzdem für eine Verbesserung der Versorgungslage tun kann, auch wenn die Gewinnung von ausreichend Fachkräften nicht gelingen sollte. Wer mal als Patient in Halle versucht hat, zu einem anderen Hausarzt der Wahl zu wechseln, der weiß, wie schwer das werden kann. Die Schotten sind für Neuzugänge so gut wie dicht. Die Lage auf dem sogenannten Gesundheitsmarkt in Halle ist in mancher Weise angespannt. Und in der Perspektive droht sie aufgrund des sich zuspitzenden Fachkräftemangels immer schwerer zu werden.
Fachkräfte-Problem: „Nur die Suche nach neuen Köpfen wird nicht reichen.“
„Wir haben bei Fachkräften wirklich ein Problem. Nur mit der Suche nach neuen Köpfen werden wir es aber nicht lösen“, sagt Uwe Borchers. Der Mann ist Geschäftsführer des Zentrums für Innovation in der Gesundheitswirtschaft OWL (kurz ZIG) und hat vor den Mitgliedern des Haller Sozialausschusses das Angebot der noch jungen Servicestelle Gesundheitswirtschaft für den Kreis Gütersloh vorgestellt. Zwischenfazit seines Vortrages: Es gibt eine Menge Ideen und Beispiele aus der Praxis, mit denen Akteure vor Ort die Lage auch auf dem Haller Gesundheitsmarkt verbessern könnten. „Gesundheit vor Ort kann man gestalten“, versuchte der Geschäftsführer den bei diesem Thema verunsicherten Kommunalpolitikern Mut zu machen.
In Halle 42 Prozent weniger Hausärzte bis 2035 Zur Ausgangslage: Laut Borchers wird es auch im Kreis Gütersloh künftig immer schwerer sein, einen Hausarzt in der Nähe zu finden. Im Kreis Gütersloh wird den Erhebungen zufolge die Zahl der Hausärzte bis 2035 um 42 Prozent zurückgehen. Andere Kreise in OWL haben noch schlechtere Prognosen: Minden-Lübbecke minus 53 Prozent, Höxter minus 50 sowie Lippe und Paderborn minus 48 Prozent.
Wie Borchers dem WB erläutert, hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) für die hausärztliche Versorgung im sogenannten Mittelbereich Halle-Borgholzhausen einen Versorgungsgrad von 82 Prozent festgestellt. Das gilt als vergleichsweise gut. Erst ab 75 Prozent Versorgungsgrad wird offiziell besonderer Handlungsbedarf gesehen. „Dennoch sollte man schon jetzt sehr wachsam sein, denn in den nächsten Jahren wird es Veränderungen geben“, so Borchers, der darauf hinweist, dass 33 Prozent der Hausärzte bereits über 60 Jahre alt sind. Den Berechnungen der KV zufolge kann der Mittelbereich Halle-Borgholzhausen noch 3,5 Hausarztstellen gut gebrauchen, weshalb er auch als ein Fördergebiet gilt.
Fachkräftemangel gibt es sowohl bei Ärzten als auch Pflegekräften, sodass die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen absehbar schwierig werden könnte. „Doch was können wir als Kommune denn tun?“, ging an Borchers aus dem Ausschuss die Frage, die sich nicht nur in Halle stellt. Eine der Antworten, die der ZIG-Geschäftsführer gibt, ist: „Wir müssen Versorgung neu denken.“ Und es gibt laut Borchers Beispiele, die andernorts bereits gut funktionieren.
Den Fokus wieder aufs Mediziner-Sein richten
Erstes Beispiel: Im ländlichen Plettenberg ist aus einer vormaligen Einzelpraxis ein Hausarztzentrum entwickelt. Damit sich die Ärzte und vor allem auch Ärztinnen (Borchers: „Die Medizin wird immer weiblicher.“) auf ihre medizinische Arbeit fokussieren können, ist ein Kollege eingestellt worden, der sich auf die aufwändige und sehr bürokratische Dokumentationsarbeiten konzentriert. Auch so können Ressourcen für das eigentlich wichtige medizinische Kerngeschäft gehoben werden.
Zweites Beispiel: Im Kreis Lippe sind integrierte Lösungen bei komplexen Versorgungsproblemen entwickelt worden. Dazu arbeiten das Klinikum Lippe und Ärztenetz Lippe, in dem sich Niedergelassene und Vertragsärzte befinden, zusammen. Über das sogenannte Case (Fall) Management werden Themen wie Palliativmedizin, Schlaganfallversorgung, Pflegeheimversorgung, Geriatrie, Entlassmanagement, Herzinsuffizienz und Adipositas gemeinsam bearbeitet. Auch in Halle gibt es ein Klinikum.
Drittes Beispiel: Über das Projekt Stroke OWL will die Schlaganfallhilfe in dieser Region aufzeigen, dass ein System mit Schlaganfall-Lotsen dazu beitragen kann, die Lebensqualität der betreuten Patienten zu erhöhen. Laut Borchers fühlen sich Patienten dank der Lotsen durchweg besser infomiert und können mit ihrer Krankheit besser umgehen.
Mittäter gesucht für Gesundheitskiosk
Dieses Lotsenmodell führt zum vierten Beispiel, dem sogenannten Gesundheitskiosk im ländlichen Raum. Im Lemgoer Ortsteil Hörstmar ist bereits ein solch neues Angebot für wohnortnahe, niedrigschwellige Information und Beratung entstanden. Mögliche Themen reichen laut Borchers von Medikamentenmanagement bis Sturzprophylaxe für Senioren, Bürger sollen hier sowohl Ansprechpartner für Bewegung und Ernährung als auch für Anträge oder Formulare finden. Im Altkreis Halle soll jetzt in Versmold-Loxten ein altes Gemeinschaftshaus zu einem Gesundheitskiosk entwickelt werden. „Für einen solchen Gesundheitskiosk braucht es Mittäter“, sagt Borchers und ist zugleich davon überzeugt, dass es auch in kleinen Gemeinden viel Kraft und Engagement gibt. Es gelte die Kräfte vor Ort zu stärken, um Probleme zu lösen, meint der Berater von Kommunen im Kreis Gütersloh.
Neue „Orte für Gesundheit“ schaffen
Fünftes Beispiel: Um „neue Orte für Gesundheit“ zu beschreiben, zieht ZIG-Geschäftsführer Borchers mit einem Einkaufszentrum. Hier finden sich alle möglichen Dienstleistungen an einem Ort. Übertragen auf Gesundheitszentren wären neben Arztpraxen und Apotheke auch ein Sanitätshaus sowie Tages- und Kurzzeitpflege unter einem Dach denkbar. Die Stärkung der integrierten Versorgung, wie sie aktuell auch von einigen Krankenkassen gefördert wird, ist auch Absicht des Gesetzgebers.
Wie man Medizinstudenten nach Halle holt.
Sechstes Beispiel: Auch die Stadt Halle kann nach Einschätzung von Uwe Borchers die neue Bielefelder Uniklinik als Chance für sich nutzen. An der Medizinischen Fakultät OWL, an der sich aktuell die ersten 60 Medizinstudenten ausbilden lassen, wird insbesondere auf viel Praxisbezug Wert gelegt. „Es gibt auch in Halle viele gut ausgestattete Arztpraxen. Und die Uni hat Interesse an Kooperation mit Praxen, was über unsere Servicestelle koordiniert wird“, sagt Borchers. Und er empfiehlt den Medizinstudenten möglichst interessante Praxiseinblicke zu ermöglichen. „Warum sollen sie einen Arzt nicht mal begleiten oder an einer Fallbesprechung teilnehmen“, regt Borchers an.
Siebtes Beispiel: Um Ärzte in einen Ort zu locken, könnten Kommunen „Willkommenspakete“ schnüren. Dazu zählen zum Beispiel Arbeitsstellen für die Lebenspartner oder auch Kitaplätze für die Kinder. Borchers: „So kann man im Wettbewerb für sich wirken.“
Unterm Strich ist der ZIG-Geschäftsführer der Überzeugung, dass man als Kommune mit vielen kleinen Puzzleteilen viel an der Lage verbessern kann, wenn man es allein durch Nachwuchswerbung nicht hinbekommt.
(Quelle: Stefan Küppers, Westfalenblatt, 13.05.2022)
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